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Quelle: Projekt Sozialistische Klassiker Online
Original: Brief an Carlos Quijano von der Wochenzeitschrift "Marcha", Montevideo, Uruquay
Geschrieben: März 1965
 

Ernesto Che Guevara

Der Sozialismus und der Mensch auf Cuba1) 


Lieber Genosse,

ich beende diese Notizen auf der Reise nach Afrika, in dem Wunsch, mein Versprechen, wenn auch verspätet, zu erfüllen. Ich möchte gern auf das Thema der Überschrift eingehen. Ich glaube, das könnte für die uruguayischen Leser von Interesse sein.

 

Gewöhnlich hört man aus dem Mund der kapitalistischen Sprecher als Argument im ideologischen Kampf gegen den Sozialismus die Behauptung, dieses Gesellschaftssystem oder die Periode des Aufbaus des Sozialismus, in die wir eingetreten sind, kennzeichne sich durch die Opferung des Individuums auf den Altären des Staates.

Ich beabsichtige nicht, diese Behauptung auf einer rein theoretischen Basis zu widerlegen, sondern ich möchte die Tatsachen feststellen, so wie sie in Cuba erlebt werden, und Kommentare allgemeiner Art anfügen.

Zunächst werde ich in großen Zügen die Geschichte unseres revolutionären Kampfes vor und nach der Machtübernahme skizzieren.

Bekanntlich war das genaue Datum, an dem die revolutionären Gefechte einsetzten, welche dann im 1. Januar 1959 dem Sieg der Revolution gipfelten, der 26. Juli 1953. Eine Gruppe Männer unter Führung Fidel Castros griff im Morgengrauen dieses Tages die Kaserne "Moncada" in der Oriente-Provinz an. Der Angriff wurde ein Mißerfolg, der Mißerfolg verwandelte sich in eine Katastrophe und die Überlebenden wanderten ins Gefängnis - um, kaum amnestiert, den revolutionären Kampf wieder aufzunehmen.

Während dieses Prozesses, in dem es nur Keime von Sozialismus gab, war der Mensch ein grundlegender Faktor. Au ihn vertraute man, den vereinzelten, den eigenartigen, mit Vor- und Zunamen, und von seiner Aktionsfähigkeit hing Sieg oder Scheitern der aufgetragenen Tat ab.

Dann kam die Etappe des Guerrillakampfes. Dieser entfaltete sich in zwei unterschiedlichen Milieus: im Volk, eine noch schlaftrunkenen Masse, die es zu mobilisieren galt, und in seiner Avantgarde, der Guerrilla, dem treibenden Motor der Mobilisierung, dem Generator revolutionären Bewußtseins und kämpferischer Begeisterung. Diese Avantgarde wurde zum Katalysator, der die für den Sieg notwendigen subjektiven Bedingungen schuf. Auch hier, im Rahmen des Proletarisierungsprozesses, den unser Denken durchmachte, im Rahmen der Revolution, die sich in unseren Gewohnheiten, unserer Gesinnung vollzog, war das Individuum der grundlegende Faktor. Jeder der Kämpfer der Sierra Maestra, der einen höheren Grad in den revolutionären Streitkräften erwarb, verzeichnete eine Geschichte bemerkenswerter Taten. Auf deren Grundlage erhielt er seine Ernennungen.

Es war die erste heroische Etappe, in der man sich um einen Auftrag von größerer Verantwortung, von größerer Gefahr stritt, ohne eine andere Befriedigung als die Erfüllung der Pflicht. In unserer revolutionären Erziehungsarbeit kommen wir oft auf dieses lehrreiche Thema zu sprechen. Denn in der Haltung unserer Kämpfer kündigte sich der Mensch der Zukunft an.

Bei anderen Anlässen in unserer Geschichte wiederholte sich dieses Ereignis der völligen Hingabe an die revolutionäre Sache. Während der Oktoberkrise und in den Tagen des Zyklon "Flora" erlebten wir Taten von außerordentlichem Mut und Opfer, welche ein ganzes Volk vollbrachte. Die Formel zu finden, um jene heroische Haltung auch im alltäglichen Leben zu verewigen, ist vom ideologischen Standpunkt aus eine unserer Hauptaufgaben.

Im Januar i959 wurde mit der Beteiligung verschiedener Mitglieder aus der übergelaufenen Bourgeoisie die revolutionäre Regierung eingesetzt. Die Gegenwart der Rebellenarmee garantierte als Hauptpfeiler der Stärke die Macht. Sofort entwickelten sich ernste Widersprüche, die zum Teil im Februar 1959 aufgehoben wurden, als Fidel Castro mit dem Amt des Premierministers die Regierungsführung übernahm. Seinen Höhepunkt fand dieser Prozeß im Juli des gleichen Jahres, als Präsident Urrutia unter dem Druck der Massen zurücktrat. Damit tauchte in der kubanischen Revolution, bereits in klaren Umrissen, eine Person auf, die sich systematisch bemerkbar machen wird: die Masse.

Dieses vielgesichtige Wesen ist nicht, wie behauptet wird, die Summe von Elementen ein und derselben Kategorie (sie werden allerdings durch das aufgezwungene System auf eine einzige Kategorie reduziert), die wie eine zahme Herde handelt. Es ist wahr, daß die Masse ohne zu wanken ihren Führern folgt, vor allen Fidel Castro, doch der Grad an Vertrauen, den dieser sich erwarb, entspricht genau dem richtigen Ausdeuten der Wünsche des Volkes, seiner Sehnsüchte, und dem aufrichtigen Kampf für die Erfüllung der gegebenen Versprechen. Die Masse beteiligte sich an der Landreform und dem schwierigen Unternehmen der Verwaltung der staatlichen Betriebe; sie durchlief die heroische Erfahrung von Playa Giron; sie wurde gestählt in den Kämpfen gegen die vom CIA bewaffneten Banditenbanden; sie erlebte in der Oktoberkrise eine der wichtigsten Weichenstellungen der modernen Zeit und arbeitet heute weiter am Aufbau des Sozialismus.

Von einem oberflächlichen Standpunkt aus gesehen könnte es tatsächlich scheinen, als hätten jene recht, die von der Unterwerfung des Individuums unter den Staat sprechen; die Masse verwirklicht mit Begeisterung und Disziplin ohnegleichen die Aufgaben, welche die Regierung festsetzt, seien sie nun wirtschaftlicher, kultureller, verteidigungstechnischer, sportlicher oder anderer Natur. Die Initiative geht im allgemeinen von Fidel oder vom Oberkommando der Revolution aus und wird dem Volke erklärt, das sie dann als seine eigene aufgreift. Manchmal werden auch örtliche Erfahrungen durch die Partei und die Regierung aufgegriffen, um sie demselben Prozeß gemäß zu verallgemeinern. Jedoch der Staat irrt sich bisweilen. Und sobald einer dieser Irrtümer vorkommt, wird ein Abfall der kollektiven Begeisterung spürbar als Folge des quantitativen Abfalls jedes einzelnen Elements, das sie ausmacht, und die Arbeit erlahmt, bis sie auf unerhebliche Ausmaße zusammenschrumpft; das spätestens ist der Augenblick, wo man berichtigen muß. Dies eben geschah im März 1962 angesichts der sektiererischen Politik, die der Partei von Anibal Escalante aufgebürdet worden war.

Offenkundig ist, daß dieser Mechanismus nicht ausreicht, um eine Folge besonnener Maßnahmen zu gewährleisten, und daß es an strukturierter Verbindung mit der Masse fehlt. Das müssen wir im Lauf der nächsten Jahre verbessern. Gegenwärtig benutzen wir im Fall von Initiativen, die auf höheren Regierungsebenen ausgegeben werden, noch die gleichsam intuitive Methode, allgemeine Reaktionen gegenüber den gestellten Problemen zu erlauschen. Meister darin ist Fidel, dessen besondere Art, mit dem Volk eins zu werden, man nur würdigen kann, wenn man ihn handeln sieht. Bei den großen öffentlichen Zusammenkünften bemerkt man so etwas wie den Dialog zweier Stimmgabeln, deren Vibrationen beim Gesprächspartner andere, neue hervorrufen. Fidel und die Masse beginnen in einem Dialog von wachsender Intensität zu schwingen bis zum Höhepunkt in einem jähen Finale, das gekrönt wird durch unseren Kampf- und Siegesruf.

Das schwer Begreifliche für den, der die Erfahrung der Revolution nicht durchgemacht hat, ist die innige dialektische Einheit, die zwischen dem Individuum und der Masse herrscht, in der beide miteinander in Wechselbeziehung stehen und die Masse ihrerseits, als Gesamtheit von Individuen, in Wechselbeziehung zu den Führern steht.

Im Kapitalismus lassen sich einige Erscheinungen dieser Art beobachten, wenn Politiker auftauchen, die fähig sind, das Volk wirklich zu mobilisieren. Doch sofern es sich dabei nicht um eine echte Gesellschaftsbewegung handelt - in deren Fall man nicht mehr einfach von Kapitalismus sprechen dürfte -, wird die Bewegung nur so lange dauern wie das Leben dessen, der sie antreibt, oder bis die Illusionen des Volks unter dem Zwang der kapitalistischen Gesellschaft verfliegen. In dieser wird der Mensch durch eine kalte Ordnung gelenkt, die sich gewöhnlich dem Begreifen entzieht. Der sich entfremdende Mensch hat eine unsichtbare Nabelschnur, die ihn an die Gesellschaft als Ganzes fesselt: das Wertgesetz. Dieses greift in alle Bereiche seines Lebens ein, prägt seinen Weg und sein Schicksal.

Die Gesetze des Kapitalismus, unsichtbar für die meisten Leute und blind, wirken auf das Individuum, ohne daß es dessen gewahr wird. Es sieht nur einen weiten Horizont, der ihm unendlich dünkt. So stellt es auch die kapitalistische Propaganda hin, die aus dem Fall Rockefeller - ob nun der Wahrheit entsprechend oder nicht - eine Lektion über die Möglichkeiten des Erfolgs ableiten will. Das Elend, das notwendigerweise angehäuft werden muß, damit ein solches Paradebeispiel entsteht, und die Summe von Bankrotterklärungen, auf der ein Vermögen dieser Größe beruht, erscheinen nicht in dem Gemälde, und nicht immer ist es den Volkskräften möglich, diese Entstellungen aufzudecken. (Man müßte hier eigentlich darauf eingehen, wie in den kapitalistischen Ländern die Arbeiter mehr und mehr ihren internationalen Klassengeist verlieren unter dem Einfluß einer gewissen Komplizenschaft an der Ausbeutung der abhängigen Länder, wie dadurch der Kampfgeist der Massen im eigenen Land untergraben wird - doch das ist ein Thema das über die Absicht dieser Notizen hinausreicht.)

Jedenfalls erweist der Weg sich voller Klippen, die anscheinend nur ein Individuum mit den nötigen Eigenschaften zu überwinden vermag, um sein Ziel zu erreichen. Der Preis winkt in der Ferne; der Weg ist einsam. Außerdem handelt es sich um eine Wolfskarriere: man gelangt nur über das Scheitern der andern zum Erfolg.

Ich möchte nun das Individuum - Handlungsträger in diesem seltsamen und mitreißenden Drama, das der Aufbau des Sozialismus darstellt - definieren in seiner doppelten Existenz als Einzelwesen und Mitglied der Gemeinschaft.

Ich glaube, es ist das Einfachste, wenn man zunächst einmal seine Eigenschaft als etwas noch Unfertiges, als unvollkommenes Produkt zugibt. Die erblichen Belastungen aus der Vergangenheit schlagen sich in der Gegenwart im individuellen Bewußtsein nieder, und es bedarf einer unablässigen Arbeit, um sie zu jäten. Dieser Prozeß vollzieht sich in doppelter Weise: auf der einen Seite wirkt die Gesellschaft mit ihrer unmittelbaren und mittelbaren Erziehung ein, auf der anderen Seite unterwirft sich das Individuum von sich aus einem bewußten Prozeß der Selbsterziehung.

Die neue Gesellschaft im Werden muß sehr hart mit der Vergangenheit abrechnen. Diese macht sich nicht nur im individuellen Bewußtsein bemerkbar, auf dem die Rückstände einer systematisch auf die Isolierung des Individuums ausgerichteten Erziehung lasten, sondern auch im Charakter dieser Übergangsperiode selbst, besonders in ihren Handelsbeziehungen. Die Ware ist die ökonomische Zelle der kapitalistischen Gesellschaft; solange sie besteht, werden sich ihre Auswirkungen in der Organisation der Produktion und demzufolge im Bewußtsein spüren lassen.

Im Marxschen Schema wurde die Übergangsphase verstanden als Ergebnis der explosiven Umformung des kapitalistischen Systems, das durch seine eigenen Widersprüche zerrissen wird; in der späteren Wirklichkeit sah man, wie sich vom imperialistischen Stamm einige Länder lösen, die gerade seine schwachen Äste bilden - ein von Lenin übrigens vorausgesehenes Phänomen. In diesen Ländern hat der Kapitalismus sich soweit entfaltet, daß seine Auswirkungen in der einen oder anderen Form auf das Volk spürbar werden, doch es sind nicht seine eigenen Widersprüche, die nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten das System sprengen. Der Befreiungskampf gegen einen Unterdrücker von außen, das durch ungewöhnliche Ereignisse wie Krieg hervorgerufene Elend, in deren Gefolge die privilegierten Klassen noch stärker über die Ausgebeuteten herfallen, die Befreiungsbewegungen, die auf den Sturz der neokolonialen Regime zielen, sind gewöhnlich die auslösenden Faktoren. Die bewußte Aktion tut das übrige.

In diesen Ländern hat es noch keine umfassende Erziehung zur gesellschaftlichen Arbeit gegeben, und der Reichtum wird den Massen nicht zugänglich durch den einfachen Aneignungsprozeß. Die Unterentwicklung einerseits und die übliche Kapitalflucht in "zivilisierte" Länder andererseits, machen eine rasche und von Opfern freie Veränderung unmöglich.

Es gilt eine große Strecke zu überwinden bis zum Aufbau der wirtschaftlichen Basis, und die Versuchung, den ausgetretenen Pfaden des materiellen Interesses als antreibender Hebelkraft für eine raschere Entwicklung zu folgen, ist sehr groß.

Doch läuft man dann Gefahr, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. Dem Hirngespinst nachjagend, man könne den Sozialismus mit den morschen Waffen verwirklichen, welche der Kapitalismus uns vererbt (die Ware als ökonomische Zelle, die Rentabilität, das individuelle materielle Interesse als Hebelkraft usw.), kann man sich leicht in einer Sackgasse verfangen. Und man landet unweigerlich in ihr, nachdem man eine große Strecke zurückgelegt hat, auf der die Wege sich oftmals kreuzen und es schwerfällt, den Augenblick zu erkennen, da man sich in der Richtung irrte. In der Zwischenzeit hat die angepaßte ökonomische Basis ihre Wühlarbeit in der Entwicklung des Bewußtseins vollbracht. Um den Kommunismus aufzubauen, müssen wir mit der materiellen Basis zugleich den neuen Menschen schaffen.

Daher ist es so wesentlich, das Instrument für die Mobilisierung der Massen richtig auszuwählen. Dieses Instrument muß grundsätzlich moralischer Art sein - worüber man keineswegs den richtigen Einsatz des materiellen Anreizes, vor allem gesellschaftlicher Natur, außer acht lassen sollte.

Wie ich bereits angedeutet habe, fällt es in Augenblicken äußerster Gefahr leicht, den moralischen Ansporn wirken zu lassen. Doch um ihn auch weiter wachzuhalten, gilt es, ein Bewußtsein zu entwickeln, in dem die Werte sich nach neuen Kategorien ordnen. Die Gesellschaft als Ganzes muß sich in eine riesige Schule verwandeln.

In groben Zügen entspricht dieses Ereignis dem Bildungsprozeß des kapitalistischen Bewußtseins in seiner ersten Phase. Der Kapitalismus greift zur Gewalt, doch darüber hinaus erzieht er die Leute im System. Die direkte Propaganda wird von jenen betrieben, welche die Unvermeidlichkeit der Klassenherrschaft zu predigen haben, sei sie nun göttlichen Ursprungs oder von der Natur als mechanischem Wesen aufgezwungen. Das lähmt die Massen, die sich von einem Übel unterdrückt sehen, gegen das kein Kampf hilft.

Dem folgt die Hoffnung, und in diesem Punkt unterscheidet der Kapitalismus sich von den früheren Kastenregimen, die keinerlei Möglichkeit des Auswegs ließen. Für einige bleibt dabei die Kastenformel weiterhin in Kraft: die Belohnung für die Gehorsamen besteht im Eingehen nach dem Tode in andere wunderbare Welten, wo die Guten entschädigt werden - und damit setzt die alte Tradition sich fort. Für andere gibt es eine Neuerung: die Trennung in Klassen ist unabwendbar, doch können die einzelnen Individuen sich lösen aus jener, der sie zugehören, mittels Arbeit, Initiative usw. Dieser Prozeß und jener der Selbsterziehung auf den Erfolg hin sind reiner Betrug: die eigennützige Demonstration, daß eine Lüge Wahrheit sei.

In unserm Fall gewinnt die unmittelbare Erziehung eine weit größere Bedeutung. Die Aufklärung überzeugt, weil sie wahr ist; Ausflüchte hat sie nicht nötig. Sie wird geleistet durch den Erziehungsapparat des Staates im Dienst der allgemeinen, technischen und ideologischen Kultur, mit Hilfe von Organismen wie dem Erziehungsministerium und dem Verbreitungsapparat der Partei. Die Erziehung verwurzelt sich in den Massen, und die verkündete neue Haltung neigt dazu, eine Gewohnheit zu werden. Die Masse macht sie sich allmählich zu eigen und übt Druck aus auf jene, die noch nicht erzogen sind. Das ist dann die mittelbare Form, die Massen zu erziehen, und sie ist ebenso wirkungsvoll wie die andere.

Dieser Prozeß ist bewußt; das Individuum empfindet ständig den Einfluß an neuer gesellschaftlicher Macht und merkt, daß es ihr nicht ganz gewachsen ist. Unter dem Druck, den die mittelbare Erziehung ausübt, versucht es, sich auf eine Situation einzustellen, die es als richtig empfindet, und deren mangelnde Entwicklung ihn bisher daran gehindert hat, es zu tun. Es erzieht sich selbst.

In dieser Periode des Aufbaus des Sozialismus können wir miterleben, wie der neue Mensch entsteht. Sein Bild ist noch nicht ganz vollendet, kann es gar nicht sein, weil der Prozeß parallel läuft zur Entwicklung neuer ökonomischer Formen. Abgesehen von denen, deren mangelnde Erziehung sie auf den Weg des Einzelgängers treibt, zur Selbstbefriedigung ihrer Ambitionen, gibt es solche, die auch in diesem neuen Rahmen gemeinsamen Voranschreitens dazu neigen, isoliert von der Masse zu gehen, welche sie begleitet. Entscheidend ist, daß die Menschen jeden Tag mehr Bewußtsein erlangen von der Notwendigkeit ihrer Eingliederung in die Gesellschaft und zugleich von ihrer eigenen Bedeutung als Triebkräfte derselben.

Sie gehen nicht mehr völlig allein auf Irrpfaden fernen Sehnsüchten entgegen. Sie folgen ihrer Avantgarde, die aus der Partei besteht, aus den fortschrittlichen Arbeitern, aus den fortschrittlichen Menschen, die den Massen verbunden und in enger Gemeinschaft mit ihnen vorwärts marschieren. Die Avantgarden haben ihren Blick auf die Zukunft gerichtet und auf ihrer Lohn, doch dieser wird nicht als etwas Individuelles erhofft. Der erstrebte Preis ist die neue Gesellschaft, in der die Menschen andere Züge tragen: die Gesellschaft des kommunistischen Menschen.

Der Weg ist lang und voller Schwierigkeiten. Manchmal werden wir umkehren müssen, weil wir von der Route abkamen; ein andermal trennen wir uns von den Massen, weil wir zu schnell vorrückten; gelegentlich auch, weil wir zu langsam sind, spüren wir den nahen Atem jener, die uns auf die Fersen treten. Unserem Ehrgeiz als Revolutionäre gemäß versuchen wir, so rasch wie möglich voranzukommen und Wege zu bahnen, doch dabei zu berücksichtigen, daß wir uns der Masse nähern müssen und daß diese nur dann schneller vorwärtsgehen kann, wenn wir sie mit unserem direkten Beispiel ermutigen.

Soviel Bedeutung den moralischen Antrieben zukommt, an der Tatsache, daß eine Trennung in zwei Hauptgruppen herrscht (ausgenommen natürlich die Minderheitenfraktion derer, die aus dem einen oder anderen Grund gar nicht am Aufbau des Sozialismus teilnehmen), zeigt sich die noch relativ ungenügende Entwicklung gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Avantgarde-Gruppe ist ideologisch fortgeschrittener als die Masse; diese kennt zwar die neuen Werte, aber nur unzulänglich. Während sich bei den zuerst genannten eine qualitative Veränderung vollzieht, die es ihnen ermöglicht, sich in ihrer Funktion als Vorhut aufzuopfern, kommen die zweiten nur mittelbar voran und müssen Ansporn und Druck von gewisser Intensität erfahren. Das ist die Diktatur des Proletariats, die nicht nur über die besiegte Klasse, sondern auch individuell über die siegreiche Klasse ausgeübt wird.

All dies birgt für einen umfassenden Erfolg die Notwendigkeit einer Reihe von Mechanismen in sich, von revolutionären Institutionen. Zum Bild der Volksmengen, die der Zukunft entgegen marschieren, gehört die Idee von der Institutionalisierung zu einem harmonischen Ganzen von Kanälen, Stufen, Staudämmen, gut geölten Apparaten, die diesen Vormarsch ermöglichen, die eine natürliche Auslese derer gestatten, die dazu bestimmt sind, in der Avantgarde zu schreiten, und Belohnung oder Bestrafung erteilen an jene, die der Gesellschaft im Aufbau dienen oder sich an ihr vergehen.

Diese Institutionalisierung der Revolution ist bis heute nicht erreicht. Wir suchen nach etwas Neuem, das die vollkommene Identifizierung zwischen der Regierung und der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit erlaubt, dabei in Einklang steht mit den besonderen Bedingungen des Aufbaus des Sozialismus und möglichst weit entfernt ist von den Gemeinplätzen der bürgerlichen Demokratie, die auf die werdende Gesellschaft aufgepfropft wurden (wie zum Beispiel die Parlamente). Es hat einige Versuche gegeben mit dem Ziel, bedachtsam und ohne Überstürzung die Institutionalisierung der Revolution zu schaffen. Dabei war unsere stärkste Bremse die Furcht, daß irgendein formaler Aspekt uns von den Massen und vom Individuum trennen und wir die letzte und wichtigste revolutionärste Bestrebung aus den Augen verlieren könnten: den Menschen von seiner Entfremdung befreit zu sehen.

Ungeachtet des Mangels an Institutionen, der stufenweise überwunden werden muß, wird die Geschichte heute von den Massen gemacht als einer bewußten Gesamtheit von Individuen, die für eine gleiche Sache kämpfen. Der Mensch im Sozialismus ist trotz seiner scheinbaren Standardisierung vollkommener: obwohl der perfekte Mechanismus dazu noch fehlt, ist seine Möglichkeit, sich zu äußern und im gesellschaftlichen Apparat bemerkbar zu machen, unendlich viel größer.

Noch müssen wir seine bewußte, individuelle oder kollektive Beteiligung an allen Führungs- und Produktionsmechanismen verstärken und sie verbinden mit der Idee von der Notwendigkeit der technischen und ideologischen Erziehung, so daß er spürt, wie eng diese beiden Prozesse miteinander verknüpft und wie parallel sie im Fortschritt sind. Damit wird er zum vollen Bewußtsein seines gesellschaftlichen Seins gelangen, was seiner vollen Verwirklichung als menschlichem Wesen entspricht - wenn erst einmal die Ketten der Entfremdung zerbrochen sind. Konkret wird sich das niederschlagen in der Wiedergewinnung seiner Natur - vermittels der befreiten Arbeit - und in der Äußerung seines eigenen menschlichen Zustandes - vermittels der Kultur und Kunst.

Damit er sich im Ersten [der Wiedergewinnung seiner Natur] entfaltet, muß die Arbeit einen neuen Charakter erhalten: die Ware Mensch hört auf zu existieren, und es bildet sich ein System heraus, das eine Quote verteilt für die Erfüllung der gesellschaftlichen Pflicht. Die Produktionsmittel gehören der Gesellschaft, und die Maschine ist nur wie der Schützengraben, in dem die Pflicht erfüllt wird. Der Mensch beginnt, sein Denken zu befreien von der ärgerlichen, ihm durch Notwendigkeit aufgezwungene Tatsache, vermittels der Arbeit seine tierischen Bedürfnisse befriedigen zu müssen. Er beginnt, sich in seinem Werk wiederzuerkennen und seine menschliche Größe mit Hilfe des geschaffenen Gegenstandes, der verwirklichten Arbeit, zu erfassen. Diese Arbeit bedeutet nicht mehr, einen Teil seines Seins aufzugeben als verkaufte Arbeitskraft, die ihm nicht mehr gehört; sie wird statt dessen zum Ausfluß seiner selbst, zu einem Beitrag für das gemeinsame Leben, in dem er sich spiegelt: zur Erfüllung seiner gesellschaftlichen Pflicht.

Wir unternehmen alles nur Mögliche, um der Arbeit diesen neuen Charakter der gesellschaftlichen Pflicht zu verleihen, sie auf der einen Seite mit der Entwicklung der Technik zu verbinden, welche die Bedingungen zu größerer Freiheit bieten wird, und auf der anderen Seite mit der freiwilligen Arbeit. Dabei stützen wir uns auf die marxistische Bestimmung, daß der Mensch seinen vollen menschlichen Zustand erst dann wirklich erreicht, wenn er produziert ohne den Zwang der physischen Notwendigkeit, sich als Ware verkaufen zu müssen.

Natürlich gibt es weiter Zwangsaspekte in der Arbeit, selbst wenn sie freiwillig ist; der Mensch hat noch nicht alle Nötigung, die ihn umgibt, in einen bedingten Reflex gesellschaftlicher Natur verwandelt, er produziert noch in vielen Fällen unter dem Druck der Umwelt (moralischen Zwang nennt Fidel es). Noch gelingt ihm die völlige geistige Erfreuung an seinem eigenen Werk nicht - frei vom direkten Druck der gesellschaftlichen Umwelt, jedoch in enger Verbindung mit ihr durch die neuen Gewohnheiten. Das wird dann der Kommunismus sein.

Der Wandel im Bewußtsein vollzieht sich nicht automatisch, ebensowenig wie in der Wirtschaft. Die Veränderungen sind langsam und unrhythmisch; es gibt Perioden der Beschleunigung, der Verlangsamung und auch des Rücklaufs. Darüber hinaus müssen wir, wie bereits bemerkt, berücksichtigen, daß wir nicht vor einer reinen Übergangsperiode stehen, wie Marx sie in der Kritik des Gothaer Programmes entwickelte, sondern vor einer neuen, von ihm nicht vorausgesehenen Phase: der vorzeitigen Periode des Übergangs zum Kommunismus oder des Aufbaus des Sozialismus.

Diese verläuft inmitten von heftigen Klassenkämpfen und trägt noch Elemente von Kapitalismus in sich, die das richtige Verständnis ihres Wesens verdunkeln.

Wenn wir dazu noch die Scholastik bedenken, welche die Entwicklung der marxistischen Philosophie bremste und eine systematische Beschäftigung mit dieser Periode verhinderte, so daß deren politische Ökonomie sich nicht entfalten konnte, dann müssen wir eingestehen, daß wir vorerst noch in den Kinderschuhen stecken und uns daran machen müssen, alle Grundzüge zu untersuchen, bevor wir eine ökonomische und politische Theorie von größerer Tragweite erarbeiten.

Die daraus hervorgehende Theorie wird unweigerlich den beiden Pfeilern des Aufbaus Vorrang einräumen; der Bildung des neuen Menschen und der Entwicklung der Technik. Auf beiden Seiten bleibt uns noch viel zu tun; doch weniger entschuldbar ist der Rückstand im Verständnis für die Technik als Grundlage, weil es hier nicht darum geht, sich blindlings vorzutasten, sondern wir ein gutes Stück lang dem Weg folgen können, den die fortgeschritteneren Länder der Welt gebahnt haben. Deswegen beharrt Fidel mit so viel Hartnäckigkeit auf der Notwendigkeit der technischen und wissenschaftlichen Ausbildung des ganzen Volkes und insbesondere seiner Avantgarde.

Im Bereich der Ideen, die zu nicht produktiven Tätigkeiten führen, ist es einfacher, die Trennung zwischen materieller und ideeller Notwendigkeit zu erkennen. Seit langer Zeit versucht der Mensch, sich von der Entfremdung zu befreien mittels der Kultur und der Kunst. Er stirbt täglich die acht oder mehr Stunden, in denen er sich als Ware betätigt, um dann in der geistigen Schöpfung wieder aufzuerstehen. Doch dieses Heilmittel trägt in sich die Keime der Krankheit selber: es ist ein einsames Wesen, was da die Vereinigung mit der Natur sieht. Er verteidigt seine durch die Umwelt unterdrückte Individualität und reagiert auf die ästhetischen Ideen als ein Einzelwesen, das die Sehnsucht hegt, unbefleckt zu bleiben.

Es handelt sich nur um einen Fluchtversuch. Das Wertgesetz ist längst nicht mehr ein reiner Reflex der Produktionsverhältnisse; die Monopolkapitalisten hüllen es in ein kompliziertes Gerüst, das es zu einem gefügigen Diener verwandelt, obwohl die Methoden, die sie anwenden, rein empirisch sind. Dieser Überbau zwingt einen Typ von Kunst auf, für den es die Künstler zu erziehen gilt. Die Rebellen werden von der Maschinerie gezügelt, und nur die außergewöhnlichen Talente können ihr eigenes Werk schaffen. Die übrigen werden zu verschämten Lohnempfängern oder zermalmt.

Man erklärt sich zwar für die künstlerische Suche, die man als Definition der Freiheit ausgibt, doch diese "Suche" hat ihre Grenzen, die unsichtbar bleiben, bis man dagegen stößt, will sagen: bis man die realen Probleme des Menschen und seiner Entfremdung stellt. Sinnlose Angst oder vulgärer Zeitvertreib bilden bequeme Ventile für die menschliche Unruhe; man bekämpft die Idee, aus der Kunst eine Waffe der Denunzierung zu schmieden. Wenn sie sich an die Spielregeln halten, erlangen die Künstler alle Ehren; die gleichen, die ein Affe empfängt, wenn er Pirouetten erfindet. Die Bedingung ist nur, keinen Versuch zu unternehmen, dem unsichtbaren Käfig zu entkommen.

Als die Revolution die Macht übernahm, vollzog sich der Exodus all derer, die völlig domestiziert waren; die anderen, ob Revolutionäre oder nicht, sahen einen neuen Weg vor sich. Die künstlerische Suche empfing neuen Impuls. Jedoch die Routen waren mehr oder weniger vorgezeichnet, und der Hang zur Fluchtidee versteckte sich hinter dem Wort Freiheit. Selbst bei den Revolutionären erhielt sich diese Haltung vielfach, ein Abglanz des bürgerlichen Idealismus im Bewußtsein.

In Ländern, die einen ähnlichen Prozeß durchmachten, versuchte man diese Tendenzen mit übertriebenem Dogmatismus zu bekämpfen. Die allgemeine Kultur wandelte sich fast zu einem Tabu, und zum Gipfel künstlerischen Strebens erklärte man eine formal exakte Wiedergabe der Natur, die sich dann verwandelte in eine mechanische Wiedergabe jener gesellschaftlichen Wirklichkeit, die man zu zeigen wünschte: jene ideale Gesellschaft, sozusagen ohne Konflikte und Widersprüche, die man zu schaffen suchte.

Der Sozialismus ist jung und hat seine Fehler. Uns Revolutionären mangelt es oft an den nötigen Kenntnissen und an der nötigen intellektuellen Kühnheit, um die Aufgabe anzugehen, einen neuen Menschen mit Methoden zu entwickeln, die sich von den konventionellen unterscheiden, denn die konventionellen Methoden leiden unter dem Einfluß der Gesellschaft, die sie schuf. (Einmal mehr stellt sich das Problem des Verhältnisses von Inhalt und Form.) Die Richtungslosigkeit ist groß, und die Probleme des materiellen Aufbaus nehmen uns völlig in Anspruch. Es gibt keine Künstler mit großer Autorität, die zugleich große revolutionäre Autorität besäßen.

Die Männer der Partei müssen diese Aufgabe in die Hand nehmen und das Hauptziel zu erreichen suchen: die Erziehung des Volkes.

Man sucht dann nach Vereinfachung, nach dem, was jedermann versteht, und das heißt, was die Funktionäre verstehen. Die echte künstlerische Suche wird für nichtig erklärt und das Problem der allgemeinen Kultur reduziert auf eine Aneignung der sozialistischen Gegenwart und der toten, daher ungefährlichen Vergangenheit. So entsteht der sozialistische Realismus auf den Grundlagen der Kunst des vorigen Jahrhunderts.

Jedoch die realistische Kunst des 19. Jahrhunderts ist ebenfalls klassengebunden, vielleicht noch reiner kapitalistisch als diese dekadente Kunst des 20. Jahrhunderts, durch welche die allen gemeinsame Angst des entfremdeten Menschen schimmert. Der Kapitalismus hat in der Kultur alles von sich gegeben, und es bleibt nichts von ihm übrig außer dem Vorzeigen eines übelriechenden Kadavers: die heutige Dekadenz in der Kunst.

Warum aber in den eingefrorenen Formen des sozialistischen Realismus das einzig gültige Rezept suchen wollen? Man kann dem sozialistischen Realismus zwar nicht "die Freiheit" entgegenstellen, weil diese noch nicht existiert, nicht existieren wird bis zur vollkommenen Entfaltung der neuen Gesellschaft; aber man soll sich auch nicht anmaßen, alle Kunstformen, die nach der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, vom päpstlichen Stuhl des Ultrarealismus aus zu verdammen. Man verfiele dann in einen Proudhonschen Fehler der Rückkehr zum Vergangenen, würde der künstlerischen Äußerung des Menschen, die heute entsteht und sich aufbaut, eine Zwangsjacke anlegen. Es fehlt an der Entwicklung eines ideologisch-kulturellen Mechanismus, der das Suchen ermöglicht und das Unkraut jätet, das sich so leicht vermehrt auf dem mit staatlicher Subvention gedüngten Boden.

In unserem Land hat es den Irrtum des mechanischen Realismus nicht gegeben, dafür einen anderen mit umgekehrten Vorzeichen. Weil wir nämlich die Notwendigkeit nicht begriffen, den neuen Menschen zu schaffen, der weder die Ideen des 19. noch die unseres dekadenten und krankhaften Jahrhunderts vertritt. Es ist der Mensch des 2 I. Jahrhunderts, den wir zu schaffen haben, auch wenn das bisher nur als ein subjektives und nicht systematisiertes Streben erscheint. Eben darin liegt einer der Hauptpunkte unseres Studiums und unserer Arbeit, und in dem Maße, wie wir konkrete Erfolge auf einer theoretischen Basis erzielen oder umgekehrt theoretische Schlußfolgerungen von größerer Tragweite auf der Grundlage unserer konkreten Suche ziehen, leisten wir einen wertvollen Beitrag zum Marxismus-Leninismus, zur Sache der Menschheit.

Die Reaktion auf den Menschen des 19. Jahrhunderts hat uns den Rückfall in das Dekadenzlertum [decadentismo] des 20. Jahrhunderts beschert; das ist kein übermäßig schwerer Fehler, aber wir müssen ihn überwinden, sonst laufen wir Gefahr, dem Revisionismus Tür und Tor zu öffnen.

Die breiten Massen entwickeln sich allmählich, die neuen Ideen empfangen im Schoß der Gesellschaft den entsprechenden Auftrieb, die materiellen Möglichkeiten für eine vollständige Entwicklung absolut all ihrer Mitglieder machen das Arbeiten weit fruchtbringender. Die Gegenwart gehört dem Kampf; die Zukunft gehört uns.

Fassen wir zusammen: die Schuld bei vielen unserer Intellektuellen und Künstlern liegt in ihrer "Ursünde" - sie sind keine echten Revolutionäre. Man kann versuchen, eine Ulme zu pfropfen, damit sie Birnen trägt; aber gleichzeitig muß man eben Birnbäume pflanzen. Die neuen Generationen werden frei von dieser Ursünde sein. Je stärker das Feld der Kultur und der Möglichkeit zur Äußerung sich ausdehnt, desto größer werden auch die Chancen sein, daß außergewöhnliche Künstler erstehen. Unsere Aufgabe besteht darin, zu verhindern, daß die gegenwärtige Generation, durch ihre Konflikte entwurzelt, sich selber verdirbt und auch die neuen verdirbt. Wir dürfen keine Lohnempfänger schaffen, die dem offiziellen Denken hörig sind, und auch keine "Stipendiaten", die unter dem Schutz des Staatsbudgets leben und eine Freiheit in Gänsefüßchen pflegen. Es werden die Revolutionäre kommen, die das Lied vom neuen Menschen mit der wahren Stimme des Volkes anstimmen. Dies ist ein Prozeß, der Zeit erfordert.

In unserer Gesellschaft spielen die Jugend und die Partei eine große Rolle. Besonders wichtig ist die erste, denn sie ist der formbare Ton, mit dem sich der neue Mensch ohne alle früheren Mängel aufbauen läßt. Sie empfängt die Behandlung, welche unseren Bestrebungen entspricht. Ihre Erziehung wird von Mal zu Mal vollkommener, und wir vergessen nicht, sie vom ersten Augenblick an in die Arbeit einzuweisen. Unsere Stipendiaten leisten körperliche Arbeit in ihren Ferien oder auch neben dem Studium. Die Arbeit ist in gewissen Fällen eine Belohnung, manchmal auch ein Instrument der Erziehung, niemals aber eine Strafe. Eine neue Generation entsteht.

Die Partei ist eine Organisation der Avantgarde. Die besten Arbeiter werden von ihren Kameraden zur Aufnahme vorgeschlagen. Sie ist minoritär, besitzt jedoch eine große Autorität durch die Qualität ihrer Kader. Wir streben danach, daß die Partei eine Massenorganisation wird, aber erst, wenn die Massen den Entwicklungsgrad der Avantgarde erreicht haben, das heißt, wenn sie zum Kommunismus erzogen sind. Und auf diese Erziehung ist die Arbeit ausgerichtet. Die Partei stellt das lebendige Vorbild; ihre Kader müssen Arbeitseifer und Aufopferung lehren, sie müssen durch ihr Handeln die Massen zur Erfüllung der revolutionären Aufgabe führen; das bedeutet Jahre harten Kämpfens gegen die Schwierigkeiten des Aufbaus, die Klassenfeinde, die Gebrechen aus der Vergangenheit, den Imperialismus.

Ich möchte nun die Rolle darlegen, welche die Persönlichkeit spielt, der Mensch als Individuum und Führer der Massen, welche die Geschichte machen. Es ist unsere Erfahrung, nicht ein Rezept.

Fidel verlieh in den ersten Jahren der Revolution den Impuls, gab ihr immer die Richtung, den Ton. Dahinter steht eine ansehnliche Gruppe von Revolutionären, die sich im gleichen Sinn wie der Anführer entwickelt, und eine große Masse, die ihren Führern folgt, weil sie ihnen vertraut; und sie vertraut ihnen, weil diese es verstanden, ihre Sehnsüchte zu deuten.

Es geht nicht darum, wieviel Kilogramm Fleisch man ißt oder wieviel Mal im Jahr sich jemand am Strand tummeln kann, auch nicht wieviel Luxusartikel aus dem Ausland man sich mit den gegenwärtigen Löhnen leisten kann. Es geht eben darum, daß das Individuum sich erfüllter fühlt, mit viel größerem inneren Reichtum und mit viel größerer Verantwortlichkeit. Das Individuum in unserem Land weiß, daß die glorreiche Epoche, in der zu leben ihm zufiel, eine Epoche des Opfers ist, und es kennt das Opfer. Die ersten lernten es in der Sierra Maestra kennen, und dort hieß es zu kämpfen; später haben wir es in ganz Cuba kennengelernt. Cuba ist die Avantgarde Amerikas und muß Opfer bringen, weil es diesen Vorposten innehat, weil es den Massen Lateinamerikas den Weg zur vollen Freiheit weist.

Innerhalb des Landes müssen die Führer ihre Rolle als Avantgarde erfüllen; und in aller Offenheit soll gesagt werden: in einer wahren Revolution, für die man alles gibt, von der man keinerlei materielle Vergütung erwartet, ist die Aufgabe des Avantgarde-Revolutionärs, eine großartige und zugleich beängstigende.

Ich wage zu behaupten - auch auf die Gefahr hin, lächerlich zu erscheinen -, daß der wahre Revolutionär von großen Gefühlen der Liebe geleitet wird. Es ist unmöglich, sich einen echten Revolutionär ohne diese Eigenschaft vorzustellen. Vielleicht liegt hierin eines der großen Dramen des Führenden: dieser muß mit einer leidenschaftlichen Seele einen kühlen Intellekt verbinden und, ohne mit der Wimper zu zucken, schmerzliche Entscheidungen fällen. Wir Revolutionäre der Avantgarde müssen diese Liebe zu den Völkern, zu den heiligsten Dingen idealisieren und sie einzig, unteilbar machen. Revolutionäre können nicht mit ihrer kleinen Dosis täglicher Zärtlichkeit in die Plätze hinuntersteigen, wo der gewöhnliche Mensch sie pflegt.

Die Führer der Revolution haben Kinder, die beim ersten Stammeln nicht den Vater nennen lernen, Frauen, die ein Teil des allgemeinen Verzichts auf Leben sind, damit die Revolution ihrer Bestimmung zugeführt wird. Der Kreis der Freunde entspricht genau dem Kreis der Revolutionsgefährten. Es gibt kein Leben außerhalb der Revolution. Unter diesen Umständen braucht es ein großes Maß an Menschlichkeit, ein großes Maß an Gerechtigkeits- und Wahrheitssinn, um nicht in extreme Dogmatik, in kalte Scholastik zu verfallen, um sich nicht von den Massen zu isolieren. Alle Tage müssen wir kämpfen, damit diese Liebe zur lebendigen Menschheit sich in konkrete Taten umsetzt, in Handlungen, die als Vorbild, die als Mobilisierung dienen.

Der Revolutionär, ideologischer Motor der Revolution innerhalb seiner Partei, verbraucht sich in dieser unablässigen Aktivität, die erst mit dem Tod ein Ende nimmt - bis zumindest der Aufbau Weltmaßstab erreicht. Wenn sein revolutionären Eifer abstumpft, sobald die dringlichsten Aufgaben in lokalem Maßstab verwirklicht sind, und wenn er den proletarischen Internationalismus vergißt, dann hört die Revolution, die er leitet, auf, eine treibende Kraft zu sein und sinkt in eine bequeme Schläfrigkeit ab, die von unseren unversöhnlichen Feinden, dem Imperialismus, ausgenutzt wird, um an Boden zu gewinnen. Der proletarische Internationalismus ist eine Pflicht, aber auch eine revolutionäre Notwendigkeit. So lehren wir es unser Volk.

Natürlich bergen die gegenwärtigen Umstände Gefahren. Nicht nur die des Dogmatismus, nicht nur des Einfrierens der Beziehungen zu den Massen mitten in der großen Aufgabe; es besteht auch die Gefahr von Schwächen, in die man verfallen kann. Wenn ein Mensch glaubt, um sein ganzes Leben der Revolution zu weihen, dürfe er seinen Geist nicht ablenken mit der Sorge, daß einem Sohn ein bestimmtes Produkt fehlt, daß die Schuhe der Kinder abgetragen sind, daß es seiner Familie an etwas Notwendigem mangelt, dann läßt er unter diesem Gedankengang die Keime künftiger Korruption ein.

In unserem Fall haben wir den Standpunkt verfechten, daß unsere Kinder dasselbe besitzen und entbehren sollen, was die Kinder des gewöhnlichen Menschen besitzen und entbehren, und unsere Familie muß es begreifen und dafür kämpfen. Die Revolution erfolgt mittels des Menschen, doch muß der Mensch tagtäglich seinen revolutionären Geist stählen.

Auf diese Weise schreiten wir voran. An der Spitze der riesigen Kolonne - wir schämen uns dessen nicht, noch haben wir Angst es auszusprechen - erst Fidel, dann kommen die besten Kader der Partei und unmittelbar dahinter, so nah, daß man seine ungeheure Kraft spürt, geht das Volk in seiner Gesamtheit; ein solider Bau aus Individuen, die einem gemeinsamen Ziel entgegen schreiten; Individuen, die das Bewußtsein empfingen von dem, was getan werden muß; Menschen, die kämpfen, um dem Reich der Notwendigkeit zu entkommen und in das der Freiheit einzutreten.

Diese riesige Menge ordnet sich; ihre Ordnung entspricht dem Bewußtsein von der Notwendigkeit derselben; es ist keine verstreute Kraft, die wie Granatäpfel zu zerstückeln wäre in Tausende durch den Raum irrende Bruchteilchen, wo jedermann auf irgendwelche Weise, in erbittertem Kampf gegen seinesgleichen versucht, eine Position zu erreichen, die ihm Halt bietet vor einer unsicheren Zukunft.

Wir wissen, daß Opfer auf uns warten und daß wir einen Preis zu zahlen haben für das heroische Beginnen, eine Avantgarde als Nation aufzubauen. Wir Führer wissen, daß wir uns das Recht erkaufen müssen, sagen zu dürfen, daß wir an der Spitze des Volkes stehen und daß dieses an der Spitze Amerikas steht. Alle und jeder einzelne von uns entrichtet pünktlich seinen Beitrag an Opfern in dem Bewußtsein, belohnt zu werden durch die Befriedigung in der erfüllten Pflicht, mit allen gemeinsam dem neuen Menschen entgegenzusehen, der sich am Horizont abzeichnet.

Lassen Sie mich einige Schlußfolgerungen ziehen: Wir Sozialisten sind freier, weil wir erfüllter sind; wir sind erfüllter, weil wir freier sind. Das Gerippe unserer vollen Freiheit steht, es fehlt die fleischliche Substanz und die Hülle; wir werden sie schaffen.

Unsere Freiheit und ihr täglicher Unterhalt haben die Farbe des Blutes und sind voller Opfer.

Unser Opfer ist bewußt; ein Beitrag, um die Freiheit zu bezahlen, die wir errichten.

Der Weg ist lang und zum Teil unbekannt; wir kennen unsere Grenzen. Wir werden den Menschen des 21. Jahrhunderts hervorbringen: uns selber. Wir werden uns stählen im täglichen Handeln, um einen neuen Menschen mit einer neuen Technik zu erschaffen. Die Persönlichkeit spielt die Rolle der Mobilisierung und Führung, sofern sie die höchsten Tugenden und Sehnsüchte des Volkes verkörpert und nicht von der Route abweicht. Den Weg bahnt die Gruppe der Avantgarde, die Besten unter den Guten, die Partei.

Der Ton, aus dem wir unser Werk formen, ist die Jugend; in sie setzen wir unsere Hoffnung, und sie bereiten wir darauf vor, aus unsren Händen die Fahne entgegenzunehmen. Wenn dieser stammelnde Brief einiges erhellt, hat er sein Ziel erfüllt, das ich ihm steckte.

Empfangen Sie unseren Gruß, wie einen Händedruck oder ein "Ave Maria Purisima".

Vaterland oder Tod!

Che


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Letzte Änderung: 25. April 2001 - © Kunst des Denkens 2000-2001