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Quelle: W.I. Lenin Werke, Dietz Verlag Berlin (DDR), 1977, Band 1, S. 1-63
Original: Manuskript
Geschrieben: Frührjahr 1893
 

|1| W.I. Lenin

Neue wirtschaftliche Vorgänge im bäuerlichen Leben1) 

(Zu dem Buch von V.J. Postnikov "Die südrussische Bauernwirtschaft")


|2||3| I

Das vor zwei Jahren erschienene Buch von V.J. Postnikov "Die südrussische Bauernwirtschaft" (Moskau 1891, XXXII + 391 Seiten) stellt eine außerordentlich detaillierte und ausführliche Beschreibung der bäerlichen Wirtschaft in den Gouvernements Taurien, Čerson und Êkaterinoslav, vorwiegend aber in den auf dem Festland gelegenen (nördlichen) Kreisen des Gouvernements Taurien dar. Diese Beschreibung beruht erstens - und hauptsächlich - auf regionalstatistischen Untersuchungen2) über die drei genannten Gouvernements; zweitens auf persönlichen Beobachtungen, die der Verfasser in den Jahren 1887-1890 teils aus Dienstpflicht {Der Verfasser war Beamter für die Vermessung fiskalischer Ländereien im Gouvernement Taurien}, teils zum Zweck spezieller Untersuchung der bäerlichen Wirtschaft angestellt hat.
Der Versuch, die regionalstatistischen Erhebungen für ein ganzes Gebiet zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen und ihre Ergebnisse in systematischer Form darzulegen, ist schon an sich von größtem Interesse, denn die Regionalstatistik liefert reiches und außerordentlich detailliertes Material über die ökonomische Lage der Bauernschaft, aber sie liefert es in einer Form, die diese Untersuchungen für das Publikum fast restlos entwertet: die regionalstatistischen Sammlungen bilden ganze Bände von Tabellen (gewöhnlich ist jedem Kreis ein besonderer Band gewidmet), deren Zusammenfassung allein zu hinlänglich umfassenden und übersichtlichen Rubriken spezielle Arbeiten erforderlich macht. Die Notwendigkeit, die regionalstatistischen Daten zusammenzufassen und zu bearbeiten, ist schon seit langem spürbar. Zu diesem Zweck hat man es in letzter Zeit unternommen, "Ereignisse der Regionalstatistik" herauszubringen. Der Plan dieser Ausgabe ist folgender: Eine bestimmte, die bäuerliche Wirtschaft charakterisierende Teilfrage wird herausgegriffen, und alle zusammengefassten Daten der Regionalstatistik zu dieser Frage |4| werden besonders untersucht; zusammengefasst werden dabei die Daten über das Schwarzerdegebiet im Süden Russlands und über das Nichtschwarzerdegebiet im Norden, über ausschließlich landwirtschaftliche Gouvernements und über gewerbliche Gouvernements. Nach diesem Plan sind die beiden bisher erschienenen Bände der "Ergebnisse" zusammengestellt; der erste behandelt die "bäuerliche Gemeinde" (V.V.3)), der zweite die "bäuerlichen Pachtungen auf Nichtanteilland" (N. Karyšev).4)  Ob eine solche Methode der Zusammenfassung richtig ist, lässt sich bezweifeln: erstens werden dabei Daten zusammengefasst, die sich auf verschiedenartige wirtschaftliche Gebiete mit unterschiedlichen ökonomischen Bedingungen beziehen (wobei es große Schwierigkeiten bereitet, die einzelnen Gebiete gesondert zu charakterisieren, weil die Regionaluntersuchungen unvollendet sind und viele Kreise nicht erfasst haben: diese Schwierigkeiten haben sich bereits im zweiten Band der "Ergebnisse" gezeigt; Karyschews Versuch, die Daten der Regionalstatistik auf bestimmte unterschiedliche Gebiete zu verteilen, ist misslungen); zweitens ist es völlig unmöglich, eine Seite der bäuerlichen Wirtschaft gesondert darzustellen, ohne sich mit ihren anderen Seiten zu befassen; man ist dabei genötigt, eine Frage künstlich aus dem Zusammenhang zu reißen, und damit geht die Geschlossenheit der Darstellung verloren. Die bäuerlichen Pachtungen auf Nichtanteilland werden von dem gepachteten Anteilland, von den allgemeinen Daten über die ökonomische Gruppierung der Bauern, den Daten über die Größe der Saatfläche getrennt; sie werden lediglich als ein Teil der bäuerlichen Wirtschaft betrachtet, während sie häufig eine besondere Methode der Führung der Privatwirtschaft sind. Darum wäre es, wie mir scheint, vorzuziehen, die Daten der Regionalstatistik für ein bestimmtes Gebiet mit gleichartigen ökonomischen Bedingungen zusammenzufassen.
Wenn ich beiläufig meine Gedanken über ein richtigeres Verfahren zur Zusammenfassung der regionalstatistischen Untersuchungen entwickle, Gedanken, die sich bei einem Vergleich der "Ergebnisse" mit dem Buch Postnikovs aufdrängen, so muss ich allerdings den Vorbehalt machen, dass Postnikov sich eigentlich nicht das Ziel gesteckt hat, eine Zusammenfassung zu geben; er verweist das Zahlenmaterial in den Hintergrund und richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf eine vollständige und anschauliche Darstellung.
|5| In seinem Buch geht der Autor mit nahezu gleicher Aufmerksamkeit auf Fragen ökonomischen, administrativ-juristischen (Formen des Grundbesitzes) und technischen (Landvermessung; System der Wirtschaft; Ernteerträge) Charakters ein, doch lag es in seiner Absicht, vor allem die ökonomischen Fragen in den Vordergrund zu rücken.

»Ich muss gestehen«, sagt Herr Postnikov im Vorwort, »dass ich der Technik der bäuerlichen Wirtschaft weniger Beachtung schenke, als dies möglich wäre, aber ich tue es, weil meiner Auffassung nach die ökonomischen Bedingungen in der bäuerlichen Wirtschaft eine größere Rolle spielen als die Technik. In unserer Presse […] wird die ökonomische Seite gewöhnlich ignoriert […] Der Untersuchung der grundlegenden ökonomischen Fragen, wie das für unsere Bauernwirtschaft die Agrarfrage und die Frage der Landvermessung sind, wird nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Vorliegendes Buch widmet der Klärung gerade dieser Fragen und besonders der Agrarfrage größeren Raum.« (Vorwort, S. IX)

Da ich die Ansichten des Autors über die jeweilige Wichtigkeit der ökonomischen und der technischen Fragen vollauf teile, beabsichtige ich auch, meinen Artikel ausschließlich der Erörterung jenes Teils der Arbeit des Herrn Postnikov zu widmen, in dem er die bäuerliche Wirtschaft einer politisch-ökonomischen Untersuchung unterzieht. {Ich halte diese Erörterung nicht für überflüssig; denn das Buch des Herrn Postnikov, das eine der hervorragendsten Erscheinungen unserer Wirtschaftsliteratur während der letzten Jahre ist, hat fast keine Beachtung gefunden. Dies erklärt sich vielleicht zum Teil daraus, dass der Autor die ökonomischen Fragen, obwohl er selbst ihre große Bedeutung anerkennt, zu wenig zusammenhängend behandelt und die Darlegung mit anderen Details überlädt.}
Die Hauptpunkte dieser Untersuchung kennzeichnet der Autor im Vorwort folgendermaßen:

»Die in letzter Zeit zu verzeichnende umfangreiche Anwendung von Maschinen in der bäuerlichen Landwirtschaft und die merkliche Erweiterung des Umfangs der Wirtschaft bei dem wohlhabenden Teil der Bauernschaft bedeuten im Leben unserer Landwirtschaft eine neue Phase, deren Entwicklung durch die schweren wirtschaftlichen Verhältnisse dieses Jahres zweifellos einen neuen Anstoß erhalten wird. Die Produktivität der bäuerlichen Arbeit und die Leistungsfähigkeit der Familie steigen erheblich mit zunehmender Größe der Wirtschaft und mit der Verwendung von Ma|6|schinen, was bisher bei der Bestimmung der Fläche, die eine Bauernfamilie zu bearbeiten vermag, außer Acht gelassen wurde […]
Die Anwendung von Maschinen in der bäuerlichen Wirtschaft ruft wesentliche Veränderungen der Lebensweise auf dem Lande hervor: sie vermindert die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft, macht die in unserer Landwirtschaft zu verzeichnende Übervölkerung für die Bauern noch fühlbarer und trägt dazu bei, die Zahl der für das Dorf überzählig gewordenen Familien zu vermehren, die einen Nebenerwerb suchen müssen und faktisch landlos werden. Zugleich hebt aber die Verwendung großer Maschinen in der bäuerlichen Wirtschaft bei den vorhandenen Methoden des Ackerbaus und seiner Extensität auch den Wohlstand der Bauern auf eine Höhe, an die bisher gar nicht zu denken war. Darin liegt die Gewähr für die Kraft der neuen wirtschaftlichen Vorgänge im bäuerlichen Leben. Diese Vorgänge in der südrussischen Bauernschaft festzustellen und zu klären, ist die erste Aufgabe des vorliegenden Buches.« (Vorwort, S. X)

Bevor ich darlege, worin nach Meinung des Autors diese neuen wirtschaftlichen Vorgänge bestehen, möchte ich zwei weitere Vorbehalte machen.
Erstens bringt Postnikov, wie schon oben bemerkt, Daten über die Gouvernements čerson, Êkaterinoslav und Taurien, genügend detailiert sind jedoch nur die Daten, die sich auf das letztgenannte Gouvernement - aber nicht einmal auf das gesamte - beziehen: der Autor bringt keine Angaben über die Krim, auf der etwas andere wirtschaftliche Verhältnisse herrschen, und beschränkt sich ausschließlich auf die drei nördlichen, auf dem Festland gelegenen Kreise des Gouvernements Taurien, nämlich Berdânsk, Melitopol und Dnêprovsk. Ich beschränke mich auf die Daten über diese drei Kreise.
Zweitens ist das Gouvernement Taurien außer von Russen auch von Deutschen und Bulgaren besiedelt, deren Anzahl allerdings im Vergleich zur russischen Bevölkerung gering ist: im Kreis Dnêprowsk gehöhren 113 von den 19586 Höfen des Kreises deutschen Kolonisten, also nur 0,6%. Im Kreis Melitopol gehöhren Deutschen und Bulgaren (1874+285=) 2159 Höfe von 34978, d.h. 6,1%. Im Kreis Berdânsk schließlich sind es 7224 Höfe von 28794, d.h. 25%. Insgesamt besitzen die Kolonisten in den drei Kreisen 9496 Höfe von 83358, d.h. ungefähr 1/9. Im All|7|gemeinen ist somit die Zahl der Kolonisten recht unbedeutend, im Kreis Dnêprovsk sogar verschwindend gering. Der Autor beschreibt die Wirtschaft der Kolonisten ausführlich und behandelt sie stets gesondert von der russischen. Ich lasse alle diese Beschreibungen beiseite und beschränke mich ausschließlich auf die Wirtschaft der russischen Bauern. Allerdings sind in den Zahlenangaben Russen und Deutsche zusammengefasst, doch kann die Einbeziehung der Deutschen bei ihrer geringen Zahl die Gesamtrelationen nicht ändern, so dass es durchaus möglich ist, auf Grund dieser Daten die russische Bauernschaft zu charakterisieren. Die russische Bevölkerung des Gouvernements Taurien, die sich in den letzten 30 Jahren in diesem Gebiet niedergelassen hat, unterscheidet sich von der Bauernschaft anderer russischer Gouvernements lediglich durch größere Wohlhabenheit. Der Grundbesitz der Dorfgemeinden5) ist nach den Worten des Autors in diesem Gebiet »typisch und stabil« {Nur in fünf Dörfern ist der Boden im Besitz einzelner Höfe}; mit einem Wort, die Kolonisten ausgenommen, weist die bäuerliche Wirtschaft im Gouvernement Taurien keinerlei grundsätzliche Unterschiede gegenüber dem allgemeinen Typus der russischen Bauernwirtschaft auf.

II

»Gegenwärtig«, führt Postnikov aus, »ist jedes einigermaßen bedeutende südrussische Dorf (und das gleiche lässt sich wahrscheinlich von den meisten Gebieten Russlands sagen) durch eine derart unterschiedliche ökonomische Lage der einzelnen Bevölkerungsgruppen gekennzeichnet, dass es höchst bedenklich ist, von einem Wohlstand ganzer Dörfer zu sprechen und ihn mit Durchschnittszahlen auszudrücken. Derartige Durchschnittszahlen weisen auf einige bestimmende Bedingungen im wirtschaftlichen Leben der Bauern hin, vermitteln aber keinerlei Vorstellung von der ganzen Unterschiedlichkeit der ökonomischen Erscheinungen, die man in der Wirklichkeit vorfindet.« (S. 106)

|8| Etwas weiter unten drückt sich Postnikov noch bestimmter aus. Er sagt:

»Die Unterschiedlichkeit des ökonomischen Wohlstands erschwert es außerordentlich, die Frage zu entscheiden, wie es um die allgemeine Wohlhabenheit der Bevölkerung bestellt ist. Wer die großen Dörfer des Gouvernements Taurien auf der Durchreise flüchtig kennenlernt, kommt gewöhnlich zu dem Schluss, dass die dortigen Bauern sehr wolübabend seien; kann man aber ein Dorf wohlhabend nennen, wenn in ihm die eine Hälfte der Bauern aus Reichen besteht, die andere dagegen in ständiger Not lebt? Und nach welchen Kennzeichen soll die relativ größere oder geringere Wohlhabenheit dieses oder jenes Dorfes beurteilt werden? Es liegt auf der Hand, dass Durchschnittszahlen, die die Lage der Bevölkerung eines ganzen Dorfes oder Distrikts kennzeichnen, hier nicht ausreichen, um Schlüsse auf den bäuerlichen Wohlstand zu ziehen. Darüber kann man sich nur auf Grund eines Komplexes vieler Daten, und bei gleichzeitiger Gliederung der Bevölkerung in Guppen, ein Urteil bilden.« (S. 154)

Es könnte scheinen, als ob an dieser Feststellung der Differenzierung innerhalb der Bauernschaft nichts Neues sei: nahezu in jeder Schrift, die sich mit der bäuerlichen Wirtschaft im Allgemeinen befasst, ist davon die Rede. Es geht hier aber darum, dass man gewöhnlich dieser Tatsache, wenn man sie erwähnt, keine Bedeutung beimisst, dass man sie als unwesentlich oder gar als zufällig betrachtet, dass man es für möglich hält, von einem bäuerlichen Wirtschaftstypus zu reden und dabei diesen Typus mit Durchsdinittszahlen zu charakterisieren, dass man die verschiedensten praktischen Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für die gesamte Bauernschaft erörtert. In dem Buche Postnikows ist ein Protest gegen diese Auffassungen erkennbar. Er verweist (und das nicht nur einmal) auf »die kolossale Unterschiedlichkeit der ökonomischen Lage der einzelnen Höfe innerhalb der Dorfgemeinde« (S. 323) und wendet sich entschieden gegen »das Streben, die bäuerliche Gemeinschaft6) als etwas Ganzes und Homogenes zu betrachten, wie sie sich unsere städtische Intelligenz noch bis auf den heutigen Tag vorstellt« (S. 351). »Die regionalstatistischen Untersuchungen des letzten Jahrzehnts«, sagte er, »haben klargestellt, dass unsere Dorfgemeinde keineswegs eine homogene Einheit bildet, wie das unsere Publizisten in den siebziger Jahren glaubten, und dass sich in den letzten Jahrzehnten in ihr eine Differenzierung der Bevölkerung in |9| Gruppen mit sehr unterschiedlichem ökonomischem Wohlstand vollzogen hat.« (S. 323)
Postnikov belegt seine Ansicht mit zahlreichen über das ganze Buch verstreuten Daten, und wir müssen jetzt alle diese Daten systematisch zusammenstellen, um zu prüfen, ob diese Ansicht richtig ist, und um die Frage beantworten zu können: Wer hat Recht, die "städtische Intelligenz", die die Bauernschaft als etwas Homogenes betrachtet, oder Postnikov, der behauptet, dass die Unterschiedlichkeit kolossal sei? Ferner, wie groß ist diese Unterschiedlichkeit? Steht sie einer allgemeingültigen Charaktetisierung der bäuerlichen Wirtsdiaft durch die politische Ökonomie allein auf der Grundlage von Durchschnittsangaben entgegen? Kann sie die Wirksamkeit und den Einfluss praktischer Maßnahmen in Bezug auf die verschiedenen Kategorien der Bauernschaft verändern?
Ehe wir die Zahlen anführen, die das Material zur Beantwortung dieser Fragen bieten, müssen wir bemerken, dass Postnikov alle diesbezüglichen Daten den regionalstatistischen Sammlungen über das Gouvernetnent Taurien entnommen hat. Ursprünglich begnügte sich die Regionalstatistik bei ihren Erhebungen mit Angaben über die ganze Dorfgemeinde, ohne Angaben über jeden Bauernhof einzuholen. Bald aber bemerkte man Unterschiede in den Vermögenslagen dieser Höfe und ging dazu über, die Erhebungen hofweise vorzunehmen. Das war der erste Schritt zu einer gründlicheren Untersuchung der ökonomischen Lage der Bauern. Der nächste Schritt war die Einführung kombinierter Tabellen: ausgehend von der Überzeugung, dass die Vermögensunterschiede zwischen den Bauern innerhalb einer Dorfgemeinde einschneidender sind als die Unterschiede zwischen den verschiedenen juristischen Kategorien der Bauern, begannen die Statistiker alle Kennzeichen für die ökonomische Lage der Bauern nach bestimmten Vermögensunterschieden zu gruppieren, indem sie z.B. die Bauern in Gruppen nach der Größe der Saatfläche, nach der Anzahl des Zugviehs, nach der Größe des Anteilackerlandes je Hof usw. einteilten.
Die taurische Regionalstatistik gruppiert die Bauern nach der Größe der Saatfläche. Postnikov meint, diese Gruppierung müsse »als gelungen bezeichnet werden« (S. XII), da »unter den Wirtschaftsbedingungen in den taurischen Kreisen die Größe der Saatfläche das wesentlichste Kennzeichen bäuerlichen Wohlstands ist« (S. XII). »Im südrussischen Steppengebiet«, sagt Postnikov, »sind die verschiedenen nichtlandwirtschaft|10|lichen Gewerbe bei den Bauern einstweilen verhältnismäßig unbedeutend, und die Hauptbeschäftigung der übergroßen Mehrheit der Landbevölkerung ist gegenwärtig die auf Getreideanbau beruhende Landwirtschaft.« »Nach der Regionalstatistik sind in den nördlichen Kreisen des Gouvernements Taurien 7,6% der eingesessenen Landbevölkerung ausschließlich in Gewerben tätig, und außerdem haben 16,3% der Bevölkerung bei eigener Landwirtschaft einen Nebenerwerb.« (S. 108) Tatsächlich ist eine Gruppierung nach der Größe der Saatfläche auch für die anderen Gebiete Russlands weitaus richtiger als andere von den Regionalstatistikern angewandte Gruppierungsverfahren, z.B. nach der Größe des Anteillandes oder des Anteilackers je Hof: einerseits zeigt die Größe des Anteillandes nicht unmittelbar den Woldstand des Hofes an, weil die Größe des Bodenanteils durch die Zahl der Revisionsseelen7)  oder der männlichen Familienmitglieder bestimmt wird und nur mittelbar vom Wohlstand des Landwirts abhängt, und weil schließlich der Bauer das Anteilland vielleicht nicht bewirtschaftet und, wenn er kein Inventar hat, auch nicht bewirtschaften kann, sondern es verpachtet. Anderseits ist bei Ackerbau als Hauptbeschäftigung der Bevölkerung die Ermittlung der Saatfläche notwendig, damit die Produktion errechnet und die Getreidemengen festgestellt werden können, die der Bauer verbraucht, die er kauft und die zum Verkauf gelangen. Ohne diese Fragen geklärt zu haben, bleibt eine außerordentlich wichtige Seite der bäuerlichen Wirtschaft im Dunkeln, werden der Charakter des bäuerlichen Landwirtschaftsbetriebs und dessen Bedeutung im Verhältnis zum Nebenerwerb usw. unklar bleiben. Schließlich muss gerade die Saatflädie der Gruppierung zugrunde liegen, um die Wirtschaft des Hofs mit den sogenannten Normen des bäuerlichen Grundbesitzes und der bäuerlichen Landwirtschaft, mit der Nahrungsnorm (Nahrungsfläche) und der Arbeitsnorm (Arbeitsfläche) vergleichen zu können. Mit einem Wort, die Gruppierung nach der Saatfläche ist nicht nur als gelungen, sondern als die beste und als unbedingt notwendig zu bezeichnen.
Die taurischen Statistiker gliedern die Bauern nach der Größe der Saatfläche in sechs Gruppen: 1. ohne Aussaat; 2. Saatfläche bis 5 Desjatinen8); 3. von 5 bis 10 Desjatinen; 4. von 10 bis 25 Desjatinen; 5. von 25 bis 50 Desjatinen und 6. mit mehr als 50 Desjatinen Saatfläche je Hof. In den drei Kreisen ist das Verhältnis dieser Gruppen nach der Zahl der Höfe das folgende:|11|

Höfe [%] Kreis Berdânsk [%] Kreis Melitopol [%] Kreis Dnêprovsk [%] Durchschnittliche Saatfläche je Hof für alle 3 Kreise [Desjatinen]
Ohne Aussaat 6 7,5 9 -
Bis zu 5 Desjatinen Aussaat 12 11,5 11 3,5
Von 5-10 Desjatinen Aussaat 22 21 20 8
Von 10-25 Desjatinen Aussaat 38 39 41,8 16,4
Von 25-50 Desjatinen Aussaat 19 16,6 15,1 34,5
Mehr als 50 Desjatinen Aussaat 3 4,4 3,1 75

An den Gesamtrelationen (diese Prozentzahlen beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung unter Einbeziehung der Deutschen) ändert sich wenig, wenn man die Deutschen ausschließt: so errechnet der Autor in den taurischen Kreisen insgesamt 40% Höfe mit geringer Saatfläche (bis zu 10 Desjatinen), 40% mit mittlerer (von 10 bis 25 Desjatinen) und 20% mit großer Saatfläche. Rechnet man nun die Deutschen nicht mit, so verringert sich die letzte Zahl um 1/6 (16,7%, d.h. insgesamt um 3,3%), während die Zahl der Höfe mit geringer Saatfläche entsprechend steigt.
Um festzustellen, wie groß die Unterschiede zwischen diesen Gruppen sind, beginnen wir mit Bodenbesitz und Bodennutzung.
Postnikov führt (auf S. 145) folgende Tabelle an (die Summe der drei darin angeführten Bodenkategorien hat der Autor nicht errechnet):

Gruppen der Bauern Durchschnittliche Größe des Ackerlandes je Hof [Desjatinen]
Kreis Berdânsk Kreis Melitopol Kreis Dnêprovsk
Anteilland gekauftes Land gepachtetes Land insgesamt Anteilland gekauftes Land gepachtetes Land insgesamt Anteilland gekauftes Land gepachtetes Land insgesamt
Ohne Aussaat 6,8 3,1 0,09 10 8,7 0,7 - 9,4 6,4 0,9 0,1 7,4
Bis zu 5 Desjatinen Aussaat 6,9 0,7 0,4 8 7,1 0,2 0,4 7,7 5,5 0,04 0,6 6,1
Von 5-10 Desjatinen Aussaat 9 - 1,1 10,1 9 0,2 1,4 10,6 8,7 0,05 1,6 10,3
Von 10-25 Desjatinen Aussaat 14,1 0,6 4 18,7 12,8 0,3 4,5 17,6 12,5 0,6 5,8 18,9
Von 25-50 Desjatinen Aussaat 27,6 2,1 9,8 39,5 23,5 1,5 13,4 38,4 16,6 2,3 17,4 36,3
Mehr als 50 Desjatinen Aussaat 36,7 31,3 48,4 116,4 36,2 21,3 42,5 100 17,4 30 44 91,4
In den Kreisen 14,8 1,6 5 21,4 14,1 1,4 6,7 22,2 11,2 1,7 7 19,9
»Diese Zahlen zeigen«, sagt Postnikov, »dass die Gruppe der wohlhabenderen Bauern in den taurischen Kreisen nicht nur mehr Anteilland in Nutzung hat, was davon herrühren kann, dass die Familien groß sind, sondern dass sie zugleich auch das meiste Land kauft und paditet.« (S. 146)

Hierzu ist, wie mir scheint, lediglich zu bemerken, dass die von der untersten zur obersten Gruppe zunehmende Größe des Anteillands nicht vollständig mit der Zunahme der Familiengröße erklärt werden kann. Postnikov führt für die drei Kreise folgende Tabelle an, die die Größe der Familien in den einzelnen Gruppen zeigt:

  Im Durchschnitt entfallen auf eine Familie
Kreis Berdânsk Kreis Melitopol Kreis Dnêprovsk
Personen beiderlei Geschlechts Arbeitskräfte Personen Arbeitskräfte Personen Arbeitskräfte
Ohne Aussaat 4,5 0,9 4,1 0,9 4,6 1
Bis zu 5 Desjatinen Aussaat 4,9 1,1 4,6 1 4,9 1,1
Von 5-10 Desjatinen Aussaat 5,6 1,2 5,3 1,2 5,4 1,2
Von 10-25 Desjatinen Aussaat 7,1 1,6 6,8 1,5 6,3 1,4
Von 25-50 Desjatinen Aussaat 8,2 1,8 8,6 1,9 8,2 1,9
Mehr als 50 Desjatinen Aussaat 10,6 2,3 10,8 2,3 10,1 2,3
In den Kreisen 6,6 1,5 6,5 1,5 6,2 1,4

Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass die Größe des Anteillandes je Hof von der untersten zur obersten Gruppe beträchtlich schneller zunimmt als die Anzahl der Personen beiderlei Geschlechts und der Arbeitskräfte. Wir wollen dies veranschaulichen, indem wir die Zahlen für die unterste Gruppe im Kreis Dnêprovsk gleich 100 setzen:

  Anteilland Arbeitskräfte Personen beiderlei Geschlechts
Ohne Aussaat 100 100 100
Bis zu 5 Desjatinen Aussaat 86 110 106
Von 5-10 Desjatinen Aussaat 136 120 117
Von 10-25 Desjatinen Aussaat 195 140 137
Von 25-50 Desjatinen Aussaat 259 190 178
Mehr als 50 Desjatinen Aussaat 272 230 219

Es ist klar, dass für die Größe des Anteillandes außer der Größe der Familie auch der Wohlstand des Hofes bestimmend ist.
Wenn wir uns die Angaben über die Menge des gekauften Bodens in den verschiedenen Gruppen ansehen, so stellen wir fest, dass fast ausschließlich die oberen Gruppen mit mehr als 25 Desjatinen Saatfläche Land kaufen und in der Hauptsache die ganz großen Bauern, die 75 Desjatinen je Hof bestellen. Somit bestätigen die Angaben über den gekauften Boden voll und ganz die Meinung Postnikovs über die Unterschiedlichkeit der Bauerngruppen. Eine Mitteilung z.B., wie sie der Autor auf S. 147 macht, dass »die Bauern der taurischen Kreise 96146 Desjatinen Land gekauft haben«, charakterisiert die Erscheinung durchaus nicht: dieser Boden befindet sich fast vollständig im Besitz einer unbedeutenden Minderheit, die ohnehin am besten mit Anteilland versorgt ist, im Besitz der »wohlhabenden« Bauern, wie Postnikov sich ausdrückt, und diese Bauern machen höchstens 1/5 der Bevölkerung aus.
Das gleiche muss auch von der Pachtung gesagt werden. Die oben angeführte Tabelle enthält die Gesamtangaben über das gepachtete Land, das sowohl Anteilland als auch Nichtanteilland ist. Es stellt sich heraus, dass der Umfang des gepachteten Landes ganz regelmäßig entsprechend der größeren Wohlhabenheit des Bauern wächst, dass folglich der Bauer um so mehr Boden pachtet, je besser er mit eigenem Land versorgt ist, womit er die ärmsten Gruppen des ihnen unentbehrlichen Bodens beraubt.
Es muss bemerkt werden, dass es sich dabei um eine Erscheinung handelt, die für ganz Russland zutrifft. Prof. Karyšev, der - soweit überhaupt regionalstatistische Untersuchungen vorliegen - die bäuerlichen Pachtungen von Nichtanteilland für ganz Russland zusammengefasst hat, stellt die direkte Abhängigkeit des Umfangs der Pachtungen von der Wohlhabenheit des Pächters als allgemeines Gesetz auf. {"Ergebnisse der ökonomischen Untersuchung Russlands nach Daten der Regionalstatistik", Bd. Il. N. Karyšev, Bäuerliche Pachtungen auf Nichtanteilland, Dorpat 1892, S. 122, 133 u.a.}
Übrigens bringt Postnikov noch mehr detaillierte Zahlen über die Verteilung des Pachtlandes (Anteilland und Nichtanteilland zusammengenommen), die ich ebenfalls anführen möchte:
  Kreis Berdânsk Kreis Melitopol Kreis Dnêprovsk
Pachtende Höfe [%] Ackerland je pachtender Hof [Desjatinen] Preis je Desjatine Pachtende Höfe [%] Ackerland je pachtender Hof [Desjatinen] Preis je Desjatine Pachtende Höfe [%] Ackerland je pachtender Hof [Desjatinen] Preis je Desjatine
Bis zu 5 Desjatinen Aussaat 18,7 2,1 11 14,4 3 5,5 25 2,4 15,25
Von 5-10 Desjatinen Aussaat 33,6 3,2 9,2 34,8 4,1 5,52 42 3,9 12
Von 10-25 Desjatinen Aussaat 57 7 7,65 59,3 7,5 5,74 69 8,5 4,75
Von 25-50 Desjatinen Aussaat 60,6 16,1 6,8 80,5 16,9 6,3 88 20 3,75
Mehr als 50 Desjatinen Aussaat 78,5 62 4,2 88,8 47,6 3,93 91 48,6 3,55
In den Kreisen 44,8 11,1 5,8 50 12,4 4,86 56,2 21,4 4,23

Wir sehen auch hier, dass Durchschnittszahlen keineswegs geeignet sind, die Erscheinung zu charakterisieren: wenn wir beispielsweise sagen, dass im Kreis Dnêprovsk 56% der Bauern Boden pachten, so vermittelt das eine sehr unvollständige Vorstellung von dieser Pachtung, weil der Prozentsatz der Pächter in den Gruppen, die nicht genug eigenes Land haben (wie weiter unten gezeigt werden wird), wesentlich niedriger ist nur 25% in der ersten Gruppe, während die oberste Gruppe, die vollauf mit eigenem Land versorgt ist, fast ausnahmslos (91%) noch Land hinzupachtet. In der Zahl der gepachteten Desjatinen je pachtender Hof ist der Unterschied noch bedeutender: die oberste Kategorie pachtet 30-, 15- und 24-mal soviel wie die unterste. Es ist offensichtlich, dass dies auch den Charakter der Pachtung verändert, denn in der obersten Kategorie ist die Pachtung bereits ein kommerzielles Unternehmen, in der untersten aber vielleicht ein durch bittere Not verursachter Akt. Diese Annahme findet ihre Bestätigung in den Pachtpreisen: es stellt sich heraus, dass die unteren Gruppen für den Boden mehr zahlen als die oberste Kategorie, zuweilen sogar viermal soviel (im Kreis Dnêprovsk). In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass auch das Steigen des Pachtpreises mit abnehmendem Umfang der Pachtung nicht etwa eine Besonderheit unseres Südens bildet: Karyševs Arbeit beweist die allgemeine Gültigkeit dieses Gesetzes.

»In den taurischen Kreisen«, führt Postnikov über diese Daten aus, «sind es vorwiegend die wohlhabenden Bauern, die Land pachten, Bauern, die genügend Anteil- und Eigenland besitzen; das gilt besonders für die Pachtung von Nichtanteilland, d.h. von weiter von den Dörfern abgelegenen Ländereien des Fiskus und der Grundeigentümer. Im Grunde genommen ist dies auch ganz natürlich: zur Pachtung abgelegener Ländereien braucht man eine ausreichende Menge Zugvieh, die weniger wohlhabenden Bauern aber haben hier nicht einmal genug Zugvieh, um ihr Anteilland zu bestellen.« (S. 148)

1) Diese früheste überlieferte Arbeit Lenins war für die Veröffentlichung in der Zeitschrift "Russkaja Mysl" bestimmt. Die Redaktion lehnte jedoch mit der Begründung ab, dass sie nicht der Richtung der Zeitung entspräche. Die vorliegende Fassung richtet sich nach einem Manuskript mit der endgültigen, von Lenin später redigierten Fassung.Zum Text
2) Nach der Reform von 1861 wurden bei den Regionalämtern der Gouvernements und Kreise statistische Organe geschaffen, die statistische Erhebungen, wie die Zählung der bäuerlichen und gewerblichen Betriebe je Hof und Untersuchungen zum bäuerlichen Einkommen, vornahmen und umfangreiche Sammlungen statistischer Daten herausgaben. Eine Auswertung erfolgte jedoch nicht, statt dessen trat die tatsächliche Lage in Russland hinter die riesige Menge an Zahlenmaterial zurück.Zum Text
3) V.V. ist das Pseudonym des Ideologen der liberalen Volkstümlerrichtung V.P. Voroncov aus den achziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts.Zum Text
4) "Ergebnisse der ökonomischen Untersuchung Russlands nach Daten der Regionalstatistik"; Bd. I: V.V., "Die bäuerliche Gemeinde", Moskau 1892; Bd. II: N. Karyšev, "Bäuerliche Pachtungen auf Nichtanteilland", Dorpat, 1892Zum Text
5) Gemeint ist die traditionelle slawische Dorfgemeinde (rus. Obščina), die durch gemeinschaftlichen Bodenbesitz und periodische Umverteilung des Anteillandes der einzelnen Dorfmitglieder am Gemeinschaftsland charakterisiert ist.Zum Text
6) Im Gegensatz zur Dorfgemeinde als Institution ist hier das Kollektiv der Mitglieder der Dorfgemeinde (rus. Mir) gemeint.Zum Text
7) Von 1718 bis 1857-1859 wurde in Russland in insgesamt 10 Volkszählungen (Revisionen) die Größ der männliche Bevölkerung festgestellt, die der Kopfsteuer unterlag, im Wesentlichen die Bauern und Stadtbürger. Auf der Basis des Ergebnises, der Anzahl der sogenannten Revisionsseelen, wurde in einigen Gebieten der Boden innerhalb der Dorfgemeinde neu aufgeteilt.Zum Text
8) Alte russische Flächeneinheit: 1 Desjatine = 1,09 Hektar.Zum Text


 

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